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Surrealismus: "Mehr" als Realismus

Zerfließende Uhren, zersplitternde Menschen und eine Pfeife, von der die Bildunterschrift hartnäckig behauptet: 'Ceci n'est pas une pipe." (= 'Das ist keine Pfeife.') Als die ersten surrealistischen Künstler sich im Paris der 1920er Jahre um den Schriftsteller André Breton formieren, stellen sie nicht nur die Wahrnehmung der Wirklichkeit, sondern die Realität selbst in Frage: Die Werke, die sowohl in der Bildenden Kunst als auch in der Literatur dieser Zeit entstehen, bewegen sich über ( = franz. 'sur') der Wirklichkeit, indem sie sich von der realistischen Darstellung abwenden und sich stattdessen für den Traum, das Unbewusste und das Phantastische öffnen.

Sora - SALVADOR DALI "La persistencia de la memoria" – flickr.com

Der "Surrealismus" wird schon bald zur europaweiten Strömung und findet nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Vermittlung Max Ernsts und Salvador Dalís auch in den USA Nachahmer. Von der phantastischen Malerei vergangener Jahrhunderte, wie sie sich etwa bei Hieronymus Bosch und den Symbolisten des 19. Jahrhunderts findet, unterscheidet sich die surrealistische Weltsicht dadurch, dass sie durchaus von der Realität aus und zudem über sie hinausgeht. Sie nutzt eine naturalistische, gegenständliche Gestaltungsweise, verfremdet diese jedoch so stark, dass die Unterscheidung zwischen Realität und Traum auch für den Betrachter kaum mehr möglich ist.

Diese "Verschmelzung" von visionärer und wirklicher Welt, die Breton in seinem ersten "Surrealistischen Manifest" im Jahre 1924 als Ziel der Bewegung formuliert, wird im surrealistischen Werk durch unterschiedliche künstlerische Mittel umgesetzt.

Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität. (André Breton, Surrealistisches Manifest 1924)

Die Wegbereiter des Surrealismus: Dadaismus & Psychoanalyse

Bei den ersten Künstlern, die sich ab 1919 um Breton scharen und sich sechs Jahre später mit dem Begriff "Surrealisten" nach dem Untertitel eines Dramas von Guillaume Apollinaire ("Les Mamelles des Tirésias. Drame surréaliste“) belegen, handelt es sich um Dadaisten der ersten Stunde: Diese satirische und kämpferische Bewegung war um 1915 als Protest gegen den Ersten Weltkrieg und den damit verbundenen Nationalismus des Bürgertums entstanden. Anders als ihre surrealistischen „Erben“ streben die Dadaisten jedoch nicht die Erschaffung einer neuen Kunst und einer neuen ästhetischen Wirklichkeit (einer Wirklichkeit über der mit traditionellen Mitteln wahrgenommenen Realität) an, sondern erklären Zufall und Sinnlosigkeit angesichts der unheilvollen Realität zu ihrem Programm: Ein Protest ohne Inhalt.

Philosophisch-geistigen Einfluss übt in dieser Zeit vor allem die wissenschaftliche Entdeckung des Unbewussten/ Unterbewussten in der Psychoanalyse Sigmund Freuds aus. Besonders die 1900 publizierte "Traumdeutung" des österreichischen Arztes fließt in das Programm der Surrealisten ein: Während sie vom Dadaismus in erster Linie den revolutionären und anti-kapitalistischen Charakter übernehmen, setzen sie sich durch Freud verstärkt mit den Tiefenstrukturen des menschlichen Seelenlebens auseinander und gestehen den unbewussten Impulsen einen höheren Stellenwert zu als der rationalen und logischen Überlegung.

Die Techniken des Surrealismus: Collage, Frottage, Grattage

Da die Surrealisten, anders als ihre dadaistischen Vorgänger, durchaus eine Revolution und eine neue Unabhängigkeit der Kunst anstreben, entwickeln sie auch vollkommen neuartige Ausdrucksformen. Dazu gehört die Verwendung traditioneller bildnerischer Mittel wie etwa Ölfarbe, Bleistift und Zeichenkohle ebenso wie das Schaffen neuer Techniken wie Collage, Frottage und Grattage: Bei der Collage, die vor allem durch Pablo Picasso und George Braque bekannt wird, werden bekannte Materialen wie Tapete, Papierschnipsel und Stoff zu einem neuen Ganzen zusammengefügt.

Bei der – durch den deutschen Maler Max Ernst bekannt gewordenen – "Frottage" wird Papier auf eine Oberfläche mit deutlicher Struktur (wie beispielsweise Holz oder Bimsstein) gelegt und die Maserung mit Hilfe eines weichen Bleistifts "durchgerieben". Anschließend wird die so entstehende Vorlage mit Farbe bearbeitet und so zu einem neuen Bild weiterentwickelt. Die "Grattage" hingegen arbeitet ausschließlich mit Farbe, indem mehrere Schichten übereinander auf einer Leinwand aufgetragen und anschließend partiell wieder abgekratzt werden. So entstehen neue Farbmuster.

"Mehr" als Realismus: Traum, Vision & Rausch

Die wichtigste Neuerung gegenüber den traditionellen Gestaltungsweisen sind jedoch weder Materialien noch Techniken – es ist die Beschaffenheit des künstlerischen Gestaltungsprozesses selbst: Die Surrealisten streben bei der künstlerischen Gestaltung die vollkommene Freiheit von Verstand und beschränkender Logik an, damit das künstlerische Unterbewusstsein und die spontane Stimmung die Kontrolle übernehmen könnten. Eine in Zusammenhang mit diesem Ideal entwickelte Technik ist das sog. "Automatische Schreiben", bei dem der Künstler unter Ausschaltung jeglicher Gedanken dem spontanen Impuls folgt und mit dem Bleistift oder der Zeichenkreide das gestaltet, was sein oder ihr 'künstlerischer Wille' ihm oder ihr eingibt.

Wichtig sind bei dieser Arbeit vor allem Assoziationen, welche sofort eingearbeitet werden, sowie die Arbeit mit visionären Traum- und Rauschzuständen. Viele surrealistische Künstler "arbeiten" in Phasen des Halbschlafs oder der Bewusstseinsdämmerung, um ihre 'Traumwelten' zu Papier oder auf die Leinwand bringen zu können. Auch bewusst hervorgerufene Rauschzustände durch Alkohol oder Drogen sind in der surrealistischen Szene durchaus keine Seltenheit. Eine Künstlerin, die zu den bekanntesten Vertretern des Surrealismus gezählt wird, ist die mexikanische Künstlerin Frida Kahlo, die durch ihre (zum Teil phantastisch anmutenden) Selbstbildnisse bekannt geworden ist – so in etwa das "Selbstbildnis mit Dornenhalsband" von 1940. Anders als viele andere, hat Kahlo jedoch zeitlebens keinen Grund, das visionäre Erlebnis zu "erzwingen": Auf den surrealistischen Gehalt ihrer Bilder hin befragt, sagt die Mexikanerin: Ich male, was ich sehe.

Die Realität im Surrealismus: Salvador Dalí & René Magritte

Neben den Künstlern, die mit neuen Techniken einer neuen Kunst zum Aufschwung verhelfen möchten, gibt es eine zweite Tendenz im Surrealismus, die nicht nach neuen Techniken der künstlerischen Gestaltung sucht, sondern danach trachtet, die Wahrnehmung zu verändern bzw. den Betrachter dazu zu bringen, seine Wahrnehmung zu hinterfragen. Künstler wie der Spanier Salvador Dalí und der belgische Maler René Magritte malen gegenständlich-realistisch und extrem detailliert, verfremden ihre Motive jedoch, indem sie sie in ungewohnter Manier darstellen oder in phantastisch anmutende Umgebungen versetzen. Während Dalí vor allem für seine "zerfließenden" Uhren und Elefanten berühmt geworden ist, die auf Spinnenbeinen durch die Wüste ziehen, stellt Magritte in besonderer Weise die Frage nach dem Realitätsgehalt der Wahrnehmung.

Zu Dalís bekanntesten Werken zählen neben "La persistencia de la memoria“ (= 'Die zerfließende Zeit') aus dem Jahre 1931, auch „Der erhabene Augenblick“ und „Die Versuchung des heiligen Antonius“. Alle drei Bilder sind (rein formal) extrem realistisch gestaltet, jedoch so sehr verfremdet, das zwischen den Anteilen der alltäglichen Wirklichkeit und des Traums bzw. der Vision unmöglich unterschieden werden kann. Auch Magritte malt Bilder, die stets ein Fragezeichen offen lassen und so niemals den Zweifel beseitigen, ob das Dargestellte nicht vielleicht doch etwas ganz anderes zeigt. Bekannt geworden sind daher vor allem jene Bilder, deren Figuren die Gesichtszüge fehlen, weil sie stets verdeckt sind – so etwa in dem Ölgemälde "Le Fils de L'Homme" von 1964 (siehe Bild), das es auch in unserer Galerie zu entdecken gibt.