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Genremalerei: Welche Rolle spielt der Alltag in der Kunst?

Trunkene Bauern und kreischende Mägde: Die "Genremalerei", die zwischen den ästhetischen Formen der Landschaftsmalerei und des Portraits changiert, wird häufig als eine Art gemalte Alltagsszene betrachtet, da sie auf karikierende Weise die Lebensformen der niederen sozialen Stände darstellt. Ihre Blütezeit hat die Genremalerei im 17. Jahrhundert in den Niederlanden – doch die entsprechenden Figurendarstellungen mit belehrendem Charakter finden sich schon deutlich früher auch an anderer Stelle in der Kunstgeschichte.

Der Brockhaus von 2006 definiert die Genremalerei in seiner 21. Auflage als "Darstellungsbereich, der Handlungen und Begebenheiten des alltäglichen Lebens zum Inhalt hat". Dass die von rüpelhaften Bauernfiguren und betrügerischen Dirnen bevölkerten Gemälde jedoch nicht nur Momentaufnahmen des Alltags sind, sondern durchaus ikonografischen Charakter besitzen, hat man erst in den 1970er Jahren erkannt. Durch den ikonografischen Stil entsteht innerhalb einer beliebigen alltäglichen Szene gleichsam eine zweite Bedeutungsebene, die häufig eine moralisch-erzieherische Aussage enthält: Durch das Dargestellte sollen negative Verhaltensweisen angeprangert und die Betrachter dazu aufgefordert werden, das eigene Verhalten zu überdenken.

Dieser "zweiten Seite" hat die Stilrichtung den Beinamen "Sittenbild" oder "Sittenmalerei" zu verdanken. Dem Volk durch Verbildlichungen den Spiegel vorzuhalten, ist jedoch bei weitem keine Idee des 17. Jahrhunderts. Schon Aristoteles hat um 350 v. Chr. die Belehrung des Publikums durch die Kunst gefordert: Gemäß seinen Darstellungen zu Tragödie und Komödie fordert er die Belehrung durch Idealisierung bzw. Karikierung. Die Genremalerei arbeitet beinahe ausschließlich mit karikierenden Elementen.

Die "Sitte" im "Genre": Der erzieherische Anspruch der Genremalerei

Insbesondere im christlichen Kontext ist es schon früh Usus, lächerlich-rüpelhafte Figuren als Verkörperungen von Maßlosigkeit und Zügellosigkeit in überspitzter Manier ärmlich und plump darzustellen, damit sie den größtmöglichen Kontrast zum – von der Kirche erwünschten – bescheidenen und demütigen Verhalten bilden konnten. Auf diese Weise wird der Bauernstand in den Buchillustrationen des Spätmittelalters der höfischen Gesellschaft gegenübergestellt, um Letztere daran zu erinnern, welches Verhalten nicht von ihnen erwartet wird. Ebenfalls im christlichen Kontext entstehen schon früh sogenannte Tafelbilder mit warnenden Darstellungen der Sieben Todsünden (z. B. von Hieronymus Bosch um 1500), die sich später zu Bordell-, Prügel- und Trinkgelageszenen entwickeln, in denen das schlechte Benehmen explizit angeprangert wird.

Bekannte Beispiele sind hier u.a. "Der eingeschlafene Wirt" von Adriaen Brouwer (ca. 1630) und die "Verkehrte Welt" von Jan Steen aus dem Jahre 1663, welche die negativen Folgen eines schlecht geführten Haushaltes anprangert. Auch die für die Genremalerei typischen Darstellung von Familien- und Bauernszenen in ländlicher Umgebung findet sich bereits im 16. Jahrhundert beispielsweise bei Jan Bruegel dem Älteren und Pieter Aertsen. Ihre Blütezeit jedoch erlebt die Genremalerei erst im 17. Jahrhundert in den Niederlanden, wo sie sich erstmals vollständig von genrehaften Szenen in flämischen Monatsbildern und Stundenbüchern emanzipiert und zur eigenständigen Gattung wird.

Die Wiege der Genrebilder: Antwerpen

Der starke erzieherische Impetus vor allem der frühen niederländischen Genremalerei erklärt sich aus der Weltanschauung der nördlichen Niederlande, welche zwischen dem 14. und dem 18. Jahrhundert vorwiegend calvinistisch geprägt waren und die Genrebilder dazu verwendeten, dem Volk die entsprechenden Lehren zu vermitteln. Da der Calvinismus von einer grundsätzlichen Verderbtheit des natürlichen Menschen ausgeht und von der Malerei fordert, dass sie belehrend sein müsse, stellen die Genrebilder der Region Antwerpen gleichsam einen permanent erhobenen Zeigefinger der Obrigkeit dar. Doch auch in den südlichen, weniger calvinistisch geprägten Niederlanden, erfreuen sich die belehrenden Darstellungen großer Beliebtheit vor allem bei der bürgerlichen Bevölkerungsschicht: Die Assoziation des schlechten Benehmens mit dem Bauernstand ist zugleich Aufwertung und Legitimation des eigenen Verhaltens.

Das Bürgertum ist im 17. Jahrhundert auch die Schicht, von der die meisten Genre- oder Sittenbilder in Auftrag gegeben werden. Für sozial höhere Stände werden die erzieherisch-moralischen Lehren mittels klassischer oder mythologischer Themen dargestellt, die als ästhetisch wertvoller gelten; diese Unterart der Sittenmalerei wird später unter dem Begriff „Historienmalerei“ bekannt. Von den südlichen Niederlanden, besonders jedoch von Antwerpen aus, greift die Genremalerei nach und nach auch auf andere Gegenden über. Vor allem in Norditalien und Spanien wird die Stilrichtung schnell heimisch, da beide Länder enge wirtschaftliche Verbindungen mit den exportorientierten Antwerpern pflegen.

Das Genre zwischen Portrait- und Landschaftsmalerei

Während die frühen niederländischen Bauern- und Familienszenen einen starken Akzent auf der Darstellung der ländlichen und bäurischen Landschaft erkennen lassen, verschiebt sich die Gestaltung später immer mehr vom Landschaftsbild hin zur Portraitkunst. Insbesondere in den nördlichen Niederlanden, die zur Hochburg des belehrenden Sittenbildes werden, ist die portraitistische Darstellung beliebt, da sie es dem Künstler erlaubt, den lasterhaften Menschen in allen Einzelheiten gleichsam in "Nahaufnahme" darzustellen und zeitgleich zu karikieren. Berühmtes Beispiel für diese Genrevermischung ist die "Malle Babbe" des antwerpener Malers Frans Hals:

"Die grobe, beinah skizzenhafte Pinselführung, der durch Trunkenheit verzerrte Gesichtsausdruck, der Bierkrug, die Eule als Symbol des Diabolischen sind Kennzeichen für einen lasterhaften Menschen, zumal für eine Frau."

Gleichsam eine Sonderform des Genrebildes findet sich bei Jan Vermeer, der zwar – wie für das Genre- und Sittenbild üblich – Einzelfiguren oder Gruppen in alltäglichen Situationen darstellt, diese jedoch weder überzeichnet, noch karikiert. Darüber hinaus sind die Figuren Vermeers eindeutig keine Angehörigen des Bauernmilieus, sondern wirken, wenn auch nicht wohlhabend, so doch gebildet und wohlerzogen. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist das "Mädchen mit dem Perlenohrring" (niederländisch: Het meisje met de parel), das es auch bei uns in der Galerie zu entdecken gibt (siehe Bild). Vermeers Arbeiten gelten – und das ist selten in der Genremalerei – als Belehrung durch Idealisierung: Seine Figuren tragen kein lasterhaftes Verhalten, sondern anzustrebende Tugenden zur Schau.

Quellen:

Brockhaus-Enzyklopädie in 30 Bänden, 21., völlig neu bearbeitete Auflage, Band 10: Fries-Glar, Leipzig und Mannheim 2006, S. 474.