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"Eat Art" – weil Essen mehr ist als Nahrungsaufnahme

Kahlo, Kaulbach, Kartoffelbrei: Bei der "Eat Art" wird Essen zu Kunst und die Nahrungsmittel werden ebenso gekonnt in Szene gesetzt wie der berühmte "Stierkopf" Picassos oder die bunten "Nanas" von Niki de Saint Phalle. Die spezielle und bis dahin unbekannte Form der Objektkunst entsteht in den 1960er Jahren im Zuge von neodadaistischen und neofuturistischen Strömungen und tritt in gewisser Weise das Erbe der "Cucina Futurista“ an – einer Vereinigung italienischer Künstler, die öffentliche Festessen zu Kunstwerken erklärten.

Der geistige Vater der „Eat Art“: Daniel Spoerri

Titel: Eat Art - Temptation, Fotograf: Inga Vltola, Quelle: flickr.com

Als berühmtester Vertreter der Ess-Kunst gilt der Schweizer Künstler Daniel Spoerri, welcher auch den Begriff „Eat Art“ prägt. Bekannt wird Spoerri, welcher Mitglied der französischen Künstlergruppe Nouveau Réalisme ist, in den 1960er Jahren vor allem durch seine sogenannten „Fallenbilder“ (franz. Tableaux pièges), für die er beliebige Überreste einer Mahlzeit mittels Leim und Konservierungsstoffen auf der Tischplatte fixierte, um eine dreidimensionale Momentaufnahme zu erschaffen. Es ist der Versuch, ein Stück Alltagswirklichkeit gleichsam „einzufangen“ und damit im doppelten Wortsinn „haltbar“ zu machen (siehe: https://www.spoerri.at/leben-und-werk-daniel-spoerri.htm).

Die Ess-Kunst als solche steht, da sie Alltagsgegenstände zur Kunst erhebt und der Lebenswirklichkeit einen Platz in der künstlerischen Ästhetik einzuräumen sucht, zwar in der Folge von (Spät)kubismus und Dadaismus, geht jedoch ganz neue Wege. Neben der ästhetisch-materialistischen Komponente der Nahrungsmittel geht Spoerri auch der gesellschaftlich-sozialen Bedeutung des Essens und der Esskultur nach und setzt sich intensiv mit dem menschlichen Geschmackssinn auseinander. Folge dieser Überlegungen sind eine Reihe kulinarischer Experimente, in denen Spoerri sowohl mit Geschmacksnerven, als auch mit Konventionen spielt.

Eines dieser Experimente ist das sogenannte „Palindromische Diner“, das unter anderem 2001 zu Ehren der „Fluxus“-Ausstellung in Bremen serviert wurde: Gemäß seinem Namen scheint dieses Menü in umgekehrter Reihenfolge abzulaufen, indem mit dem Kaffee begonnen und mit der Vorsuppe geendet wird. Geschmacklich entpuppt sich die Speisenfolge jedoch als ganz „normal“ im Sinne der Konvention, indem der Kaffee sich als Vorsuppe und die vermeintliche Suppe als Cappuccino herausstellt. Ein anderes kulinarisches Experiment ist Spoerris „Kartoffelbrei-Eis“, das mit (vermeintlichen) Fleischpralinen serviert wird.

Bekenntnisse zur „Eat Art“: Ausstellungen und Museen

Spoerri, der zahlreiche Texte zur Ess-Kunst veröffentlichte und seit 1970 mit dem sogenannten „Gastronoptikum“ auch eine Kulinarik-Kolumne herausgibt, eröffnet bereits in den 1968 das erste Restaurant, in dem Kunst und Kulinarik auf der Tagesordnung und der Menükarte stehen. Bereits zwei Jahre später wird mit der „Eat Art Galerie“ in Düsseldorf der erste Ausstellungsraum eröffnet, in dem alle Kunstgegenstände entweder selbst essbar sein, oder sich mit entsprechenden Themen auseinandersetzen müssen. Ausgestellt werden damals neben Objekten von Spoerri selbst auch Arbeiten von Roy Lichtenstein und Joseph Beuys.

Ein weiterer bekannter Vertreter der „Eat Art“ ist der Schweizer Künstler und Grafiker Dieter Roth (siehe Bild: Schweiz Hutsalat von Dieter Roth), der ebenfalls in den 1960er Jahren damit anfängt, Nahrungsmittel „zweckentfremden“. Anders jedoch als Spoerri, der die Kunst mit dem Essen soziologisch begründet und unter anderem nach den Hintergründen für den Umgang mit Nahrungsmitteln fragt, kommt Roth aus der Happening- und Fluxus-Bewegung und nutzt in erster Linie die materiale Seite der Leckereien: So entstehen unter Roths Händen Objekte aus Schokolade, Wurstscheiben und verschiedenen Gewürzen. Ab 1961 arbeitet er außerdem an den – bis heute umstrittenen – so genannten „Literaturwürsten“, für deren Herstellung er Buchseiten zerkleinert und (vermengt mit Gewürzen und Fett) in Schweinedärme füllte. „Verwurstet“ wurden unter anderem Grass´ „Blechtrommel“ und eine Hegel-Gesamtausgabe.

Die philosophische Seite der „Eat Art“: Die Frage nach dem „Warum?“

Anders als Roth, der mit seinen Ess-Kunst-Objekten in erster Linie provoziert, verfolgt Daniel Spoerri einen eher philosophischen Ansatz, indem er den Umgang mit Essen und den Prozess der Nahrungszubereitung und -aufnahme als Teil des gesamten Lebenszyklus begreift. Dementsprechend betrachtet er auch seine „Fallenbilder“ nur als einen winzigen Ausschnitt zwischen Leben und Tod, Verwesung und Wiedergeburt. Indem Spoerri mit Essen experimentiert und Nahrungsmittel sinnlich wie optisch verändert, schafft er nicht nur ein Bewusstsein für Essgewohnheiten und kulinarische Konventionen, sondern stellt diese zugleich in Frage.

Seit einigen Jahren arbeitet Spoerri auch in größerem Maßstab und setzt seine Ideen in Bronzeskulpturen um. Diese sogenannten Assemblages, die als eine Art plastische Collage gestaltet sind, stellt er – ähnlich wie Niki de Saint Phalle mit ihrem Tarotgarten – in der Toskana aus, wo er seit 1997 den Künstlergarten „Il Giardino di Daniel Spoerri“ betreibt. Auf dem rund 14 ha großen Gelände finden sich neben seinen eigenen Arbeiten auch Installationen befreundeter Künstlerinnern und Künstler.